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Reiten ist, sich tragen zu lassen.

Was muss ein Pferd eigentlich leisten, wenn wir uns draufsetzen? Diese Frage habe ich in den letzten Wochen in meinem Kopf hin und hergewälzt. Sie ist nicht neu und ich habe auch nicht das erste Mal darüber nachgedacht, die Frage wurde durch ein Ereignis neu aufgeworfen - Bali ist mit mir auf ihrem Rücken gestürzt und wir haben uns überschlagen. Die Situation war ganz unspektakulär, es ist nicht etwa im Gelände oder beim Springen passiert, sondern während unserer ganz normalen Arbeit auf dem Reitplatz im Trab. Ich ließ ihr nachfolgend eine osteopathische Behandlung zukommen, die Probleme in der Brustwirbelsäule zutage brachte. Nun weiß ich nicht, was vorher da war, die Henne oder das Ei, also die Brustwirbelsäulenproblematik oder der Sturz. Das ist auch gar nicht so wichtig zu wissen, denn ganz egal, was zuerst da war - wenn wir ein Pferd reiten, setzen wir uns auf dessen Brustwirbelsäule und belasten das Pferd mit unserem Gewicht. Wie kann das Pferd das zusätzliche Gewicht tragen lernen? Hier sind (mindestens) zwei Komponeten zu beachten: die mentale und die physische Komponente! Mental müssen wir das Pferd überzeugen, dass es das schaffen kann, uns in der Bewegung zu tragen! Das ist nun nicht so sehr Balis Problem, sehr wohl aber ein Thema gewesen, als ich die ersten Male Bewegung von meinem Jungspund Ruby erbeten habe, während ich auf seinem Rücken saß. Ich musste ihn in kleinen Schritten davon überzeugen, dass Bewegung mit Gepäck auf dem Rücken möglich ist. Erst wenn dies mental verankert ist, können wir dem Pferd überhaupt zeigen, wie es das Ganze körperlich bewältigen kann. Und hier macht sich die vorangegangene Bodenarbeit bezahlt. Im besten Falle haben wir dem Pferd bereits vom Boden aus gezeigt, wie es seinen Körper einsetzen kann, um erst einmal sich selbst und später eben auch noch uns zu tragen. Dann ist es nicht mehr so ein großer Schritt, um dem Pferd das Gleiche noch einmal von oben zu erklären. Und erst wenn das Pferd die Bewegung verstanden hat, können die richtigen Muskeln trainiert werden, die das Tragen des Reiters physisch überhaupt erst möglich machen!

 

Bali habe ich mehrere Wochen nach dem Sturz nur vom Boden bzw. an der Longe gearbeitet und dabei über diese ganze Thematik nachgedacht. Oberstes Ziel war die Losgelassenheit, die für Bali sowieso ein schwieriges Thema ist. Bali braucht viel Vorwärts, um loslassen zu können, aber das ist bei jedem Pferd individuell. Wenn Bali nicht genug vorwärts geht, laufen ihre Hinterbeine sozusagen entkoppelt vom restlichen Körper. Wir brauchen also Schub, beide Hinterbeine müssen Kraft über das Becken auf die Wirbelsäule übertragen, um das Pferd vorwärts zu schieben. Erst dann können wir überhaupt daran denken, Tragkraft zu entwickeln. Aber um genau die geht es ja, das Pferd soll (mich) ja tragen, den Brustkorb mit mir drauf anheben! Welche Muskulatur braucht es dafür überhaupt? Der Musculus serratus ventralis ist der wichtigste Rumpftragemuskel, er hält den Brustkorb zwischen den Schulterblättern und bestimmt durch seine Trophik die Höhe des Brustkorbes und damit die Form der Wirbelsäule. Kommen die einzelnen Wirbel durch eine Streckung der Wirbelsäule nach unten zu dicht aneinander, kann dies zu vielfältigen Problemen führen. Es geht mir aber nicht um Probleme, sondern ich möchte Positives erreichen. Eine Beugung der Wirbelsäule nach oben, damit ich als Reiter dort getragen werden kann, wäre also großartig. Als frühere Zuchtstute, die reiterlich nicht genutzt, geschweige denn gefordert wurde, hat Bali sowieso eine eher hängende Brustwirbelsäule (schließlich "hingen" da auch schon ein paar Fohlen dran bzw. haben sie nach unten gezogen). Neben dem M. serratus ventralis hilft beim Aufwölben der Brustwirbelsäule auch die Bauchmuskulatur, die im hinteren Teil über fasziale Strukturen mit dem Becken und mit den sogenannten Adduktoren verbunden ist. Adduktoren sind die Muskeln, die die (Hinter-)Beine nach innen ziehen. Um nun also die nötigen Muskeln besser zu trainieren, habe ich mit Bali vermehrt an den Seitengängen gearbeitet. Hierbei werden die Hinterbeine von den Adduktoren vermehrt nach innen gezogen und trainieren dabei gleichzeitig die Bauchmuskulatur sowie über die gewonnene Längsbiegung den M. serratus ventralis. Wichtig ist mir dabei, das Vorwärts-Abwärts zu erhalten bzw. zu pflegen, um die Oberlinie zu dehnen und die Rückenmuskulatur exzentrisch mitzutrainieren.

 

Heute bin ich Bali das dritte Mal seit unserem Sturz geritten und konnte spüren, wie sie es geschafft hat, beide Hinterbeine in Richtung Schwerpunkt zu setzen und die Brustwirbelsäule (und mich!) zu heben. Da es bei Bali das linke Hinterbein ist, das nicht so gut Last aufnehmen kann, muss ich auf der linken Hand Schulterherein arbeiten und auf der rechten Hand Kruppeherein, um das linke Hinterbein unter die Masse zu bekommen. Auch wenn ich die Seitengänge andersherum reite, bleibt es doch eine Arbeit am linken Hinterbein, also ein Hauch Schulterherein im Kruppeherein links und ein Hauch Kruppeherein im Schulterherein rechts. Nichts geht ohne das jeweils Andere. Und das gilt letztendlich nicht nur für Bali, sondern für alle Pferde und alle Lektionen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Angelika Engel (Mittwoch, 04 April 2018 19:50)

    Hallo Tanja, sehr anschaulich erklärt. Daran, dass Du es mit Deinen Pferden schaffst, zweifel ich nicht. Das sieht man an Baccaros toller Entwicklung. Dahin, oder in die Nähe, wollen wir auch kommen. Es ist ein langer Weg, aber wir gehen ihn Schritt für Schritt. Es macht mich stolz und glücklich zu sehen, wie schön sich Amadeus entwickelt ❤️. LG Angelika

  • #2

    Diana (Donnerstag, 05 April 2018 06:53)

    Sehr schön geschrieben liebe Tanja. Ich finde es auch ganz toll, wenn du die Muskeln erwähnst, da man wissen sollte, wo am Pferd was ist, trägt, unterstützt, schiebt oder sogar schwach ist und mehr trainiert werden sollte. Vielen Reitern ist das nämlich gar nicht bewusst.
    Ich freue mich auf weitere Artikel von dir und den nächsten Unterricht.
    Herzliche Grüße
    Diana